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Agilität und Flexibilität: vereinbar oder gegensätzlich?

Agilität und Flexibilität: vereinbar oder gegensätzlich?

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Jutta Rump

Ein „Zurück auf Los“ wird es nach der Corona-Krise nicht geben, schon gar nicht in der Arbeitswelt. Der ökonomische Ausnahmezustand hat ein Veränderungsklima erzeugt, das nicht nur der digitalen Transformation Rückenwind verleiht, sondern auch der Erprobung neuer Organisations- und Arbeitsformen. Die neue Normalität prägen sieben Aspekte, die jeweils aus einer Trilogie von Merkmalen bestehen (siehe Infografik am Ende des Textes). So dürfte sich auch der Trend zu agilen, mobilen und flexiblen Arbeitsformen verstärken. Agilität und Flexibilität werden oft gleichgesetzt. Doch beide unterliegen je eigenen Logiken und können einander sogar entgegenwirken.

Es stellt sich die Frage: Sind agile und flexible Arbeitsformen überhaupt miteinander vereinbar? Und wenn ja: Wie? Um dies zu beantworten, hilft ein genauerer Blick auf beide Begrifflichkeiten.

Agile Organisationen: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu

Agile Organisationseinheiten arbeiten selbstbestimmt und ohne klassische Hierarchie mit dem Ziel, Innovationen zu generieren. Dazu verpflichten sich die Mitarbeitenden auf bestimmte Prinzipien, Arbeitsziele und -regeln und achten auf deren Einhaltung. „Hierarchiefrei“ heißt also nicht „regelfrei“. Die Teams müssen in der Lage sein, mit der dabei entstehenden Dynamik, Energie und Komplexität umzugehen. Fachliche Konflikte beispielsweise gilt es im kontroversen Diskurs konstruktiv zu lösen.
Zudem benötigen agile Organisationen Zeit. Diese wird als Investition gesehen, von der ein Return on Investment in Form von Innovationen erwartet wird. Ein Endpunkt wird dabei nicht definiert. Agiles Arbeiten lässt sich also nicht mit einem Projektmanagement vereinbaren, dem eine detaillierte Meilensteinplanung zugrunde liegt.
Eine agile Organisation erfordert darüber hinaus die Fähigkeit, beidhändig zu arbeiten, um zugleich – und gleich gut – sowohl radikale als auch inkrementelle Innovationen zu generieren. Inkrementelle, also schrittweise Innovationen betreffen z. B. die Optimierung eines bestimmten Portfolios oder die Entwicklung von Lösungen in neuen Geschäftsfeldern. Inkrementelle Innovationen zielen auf den Ausbau des Bestehenden (Exploitation). Radikale Innovationen dagegen sind auf noch nicht existierende Märkte ausgerichtet, sprich: auf Exploration oder die Erschließung von Neuland.
Exploration und Exploitation, beide gefördert durch agile Methoden, erfordern Veränderungen, die sich jedoch nach Art und Umfang unterscheiden. Ist die Exploitation mit Change verbunden, zeigt die Exploration die Charakteristika der Transformation. Auch diese beiden oft synonym verwendeten Begriffe bedeuten nicht das Gleiche. Mit Change sind Veränderungen gemeint, die auf ein bestimmtes Ziel hinauslaufen, bei denen Anfang und Ende also eindeutig definiert sind. In der Regel zielen sie auf die Steigerung von Effizienz oder Effektivität. In einer Transformation hingegen wird eine permanente Veränderung angestrebt, für die es keine festgelegten Start- und Endpunkte gibt. Sie ist ganz allgemein auf Zukunftsfähigkeit gerichtet, und ihre Ziele lassen sich nur vage formulieren.
Agile Organisationen betreiben sowohl Exploitation als auch Exploration. Genauer gesagt: Sie sind das Mittel zu diesen Zwecken und müssen daher Change- und Transformationsprozesse gleichermaßen beherrschen. Als wesentliche Voraussetzung dafür gilt: Die Mitglieder agiler Teams müssen die Bereitschaft und die Fähigkeit zu Veränderungen mitbringen. Das Gleiche wird aber auch von allen übrigen Beschäftigten im Unternehmen erwartet. Nur wenn diese Bereitschaft gegeben ist, lassen sich Innovationen, die in den agilen Einheiten zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit generiert wurden, auch tatsächlich umsetzen. Kurz: Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit sind das A und O agiler Organisationen.

Flexibiliät: Zeit als neue Währung

Flexible Arbeitsmodelle und -formen können einerseits dazu dienen, die Marktbewegungen und die Wettbewerbssituationen eines Unternehmens abzubilden. Dies erfordert dann mehr Flexibilität von den Beschäftigten. Andererseits zielen solche Arbeitsmodelle auf mehr Flexibilität für die Beschäftigten. Ziel ist dann die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben oder die Vereinbarkeit von betrieblichen und individuellen Interessen. Im Folgenden ist von der zweiten Form die Rede, da sich aus ihr Zielkonflikte in agilen Organisationen ergeben können. Die Beschäftigten gewinnen durch flexible Arbeitsmodelle und -formen mehr Freiheit in der Erledigung ihrer Aufgaben. Dies entspricht der heute vorherrschenden Mentalität, Zeit als neue Währung zu sehen. Angesichts zunehmender Beschleunigung sowie von Komplexität und Veränderung als Normalzustand und obendrein von längerer Lebensarbeitszeit wünschen sich immer mehr Menschen, ihre Zeit selbstständiger einteilen zu können.
Viele Unternehmen erkennen diese Bedürfnisse an und setzen auf Arbeitszeitflexibilisierung. Sie wollen attraktive Arbeitgeber sein und investieren seit Jahren in entsprechende Modelle. Sie nutzen die Flexibilisierung häufiger als jedes andere Mittel, wenn es darum geht, eine bessere Work-Life-Balance zu fördern. Das entspricht den Erwartungen einer überwältigenden Mehrheit der Beschäftigten, die in repräsentativen Umfragen regelmäßig zeigen, wie wichtig ihnen bewegliche Arbeitszeiten sind.

Auch räumliche Flexibilität ist gefragt

Aber nicht nur die Zeit, auch der Ort ist für flexible Arbeitsmodelle von erheblicher Bedeutung. Die Möglichkeiten reichen hier vom Homeoffice über Mobile Work bis hin zu Co-Working-Spaces. Um erfolgreiches mobiles Arbeiten zu ermöglichen, bedarf es einer Abkehr von der Präsenzkultur und der Etablierung einer Vertrauens- und Erreichbarkeitskultur. Dazu müssen nicht nur Ziele vereinbart, Arbeitspakete definiert sowie verbindliche Kommunikations- und Kooperationsregeln formuliert werden. Auch die Kompetenzen in den Bereichen Selbstmanagement, Organisationsfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Kommunikationsfähigkeit gilt es zu stärken. Um der Vereinzelung vorzubeugen, braucht es neben virtuellen Begegnungen auch regelmäßig solche „Face-to-Face“.
Alles in allem: Wer in flexible Modelle von Arbeitszeit und -ort investiert und seinen Beschäftigten eine bessere Balance zwischen Beruf und Privatleben ermöglicht, erhöht deren Wohlbefinden, ihre Identifikation mit der Firma, ihre Bindung ans Unternehmen – und damit die eigene Attraktivität als Arbeitgeber. Zufriedene Mitarbeitende sind zudem eher bereit, Veränderungen mitzutragen.

Gegensätze ziehen sich nicht immer an

Agile Organisationen und Methoden brauchen die Bereitschaft der Mitarbeitenden zur Veränderung. Flexibilität bei Arbeitszeit und -ort können diese Bereitschaft mit erzeugen.
Allerdings: Trotz ihrer Schnittmengen sind beide Prinzipien nicht deckungsgleich. Denn während Agilität primär auf das Interesse des Unternehmens und seine Zukunftsfähigkeit gerichtet ist, dienen flexible Arbeitsmodelle und -formen in erster Linie dem Interesse der Mitarbeitenden. Daher lassen sich Bedingungen identifizieren, die dazu beitragen, dass sich agile Organisationsformen und flexible Arbeitsmodelle wechselseitig behindern. So kann das Streben nach Zeitsouveränität einzelner Mitglieder eines agilen Teams dessen Selbstorganisation aushebeln. Zudem kann das Zeitsystem einer agilen Organisationseinheit mit individuellen Zeitsystemen in Konflikt geraten.
Zugespitzt formuliert: Wenn ein agil organisiertes Team im Flow ist, sich also im Innovationsprozess einem erfolgskritischen Zeitpunkt nähert, ist es höchst kontraproduktiv, wenn ein oder mehrere Teammitglieder beim Blick auf die Uhr feststellen, dass sie dringend ihren Nachwuchs aus der Kinderbetreuung abholen müssen oder mit Freunden zum Sport verabredet sind. Die Work-Life-Balance scheint also nur bedingt mit der agilen Organisation kompatibel zu sein.
Dennoch können beide Organisationsprinzipien friedlich koexistieren. Um sie miteinander zu verknüpfen, bedarf es jedoch einiger erfolgskritischer Faktoren und Handlungsansätze. Alle Beteiligten müssen

  • für die Prinzipien von Agilität und für die Aspekte von Flexibilität sensibilisiert sein,
  • die Grenzen zwischen Agilität und Flexibilität kennen,
  • die Zusammenhänge von Agilität und Flexibilität im Kontext der Transformation verstehen,
  • Vorfahrtsregeln für Konfliktfälle vereinbaren und
  • die Bedingungen für individuelle Veränderungsfähigkeit schaffen.

Fazit: Die neue Normalität wird durch Agilität und Flexibilität geprägt sein. Aber es bedarf einer klugen Abstimmung, damit sich beide Organisations- und Arbeitsprinzipien wechselseitig unterstützen, statt sich auszubremsen. Mobile Arbeitsformen können dazu wesentlich beitragen. Die Herausforderung für Unternehmen besteht darin, genau dafür die technischen, organisatorischen, personellen und vor allem kulturellen Voraussetzungen zu schaffen.

Infografik:
Die neue Normalität in der Arbeitswelt – die 7*3er-Regel

 

 

 

 


Zur Autorin:

Prof. Dr. Jutta Rump ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Internationales Personalmanagement und Organisationsentwicklung an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft in Ludwigshafen. Darüber hinaus ist sie Direktorin des Instituts für Beschäftigung und Employability in Ludwigshafen (IBE). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Trends in der Arbeitswelt und deren Konsequenzen für Personalmanagement, Organisationsentwicklung und Führung. (www.ibe-ludwigshafen.de)


Dieser Artikel ist in unserem Kundenmagazin Spotlight erschienen. Hier geht es zur PDF der gesamten Ausgabe.

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